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Identitätsdiebstahl: Carrier und Brieftauben

Die Begeisterung für Tauben mit überdimensionierten Schnabelwarzen und Augenrändern findet sich nicht so sehr bei aktiven Brieftaubenzüchtern, sondern bei Haltern von ‚Schönheitsbrieftauben‘. Diese halten sie vielfach wirklich für die urtümlichen Botentauben, obwohl es Brieftauben mit so großen Nasenwarzen, wie bei einigen Schönheitsbrieftauben angestrebt, nie gab.

Der Stamm von Brieftauben, mit denen der Verfasser als Jugendlicher die ersten Flüge, noch auf der Grundlage von Hühnerfutter, bestritt, neigte auch zu stärkeren Warzen. Diese wurden aber nie so überdimensioniert, wie sie heute von einigen Taubenliebhabern unter der Bezeichnung Schönheitsbrieftauben mit Hinweis auf die angebliche uralte Tradition als Brieftauben gezeigt werden.

Abb. 1: Reisebrieftauben aus dem Jahr 1957

Bleibt man bei den Fakten, dann hat weder die Belgische Brieftaube, die wesentlich auf Hochflieger und grobe Mövchen zurückgeht, noch die ‚Türkische Taube‘ als historische Botentaube (Carrier) des Orients eine übermäßige Bewarzung besessen. Der Verweis auf die alten Botentauben mag werbend für einige Rassen sein, zutreffend ist er als Begründung für eine starke Bewarzung nicht. Gessner (1555 und 1557) sowie Aldrovandi (1600, 1610) führen Brief- oder Botentauben und Tauben mit starken Warzen in ihren Rassebeschreibungen noch nicht auf. Erst In der neu bearbeiteten Fassung des Gessners durch Horst (1669, S. 178) werden sie im deutschen Sprachraum als ‚Dückmäuler‘ aus Frankfurt erwähnt. Auf dem Oberschnabel hätten sie ein ‚hochwarziges Gewächs‘ stehen und dazu Warzen um die Augen. Beides würde mit dem Alter zunehmen. Sie seien schwer zu gewöhnen, es werde von ihnen gesagt, „daß sie von 40 Meilen wieder an ihr gehörige Orth zurück fliegen und sich derhalber offt  in Belagerungen ihrer als Botten oder Brieffträger bedient werden.“ Etwa zeitgleich werden ‚Carrier‘, die vor allem im Türkischen Reich als Botentauben gedient hätten, bei Willughby 1678 ähnlich beschrieben: Größe der gewöhnlichen Taube, der Schnabel von moderater Länge, das Auge umrahmt von nackter Haut und auf dem Schnabel eine doppelte Kruste dergleichen Haut.

Abb. 2: Die Originalquelle bei Willughby 1678

Die Beschreibung erfolgte nicht nur vom Hörensagen, sondern aus eigener Anschauung, denn solche Tauben wären im Königlichen Aviatorium im St. Jame‘s Park und an einer weiteren Stelle in London zu sehen gewesen. Kein Hinweis in beiden Quellen auf eine ausufernde Bewarzung, die auch den Unterschnabel erfasst! Willughby nennt auch  ‚Barbary-Pigeons‘, die in Deutschland als Indianer firmieren. Der Schnabel sei kurz und dick wie bei den Mövchen (Turbits), der Augenrand wie beim Carrier. Die Augenfarbe sei weiß, es gäbe aber auch Berichte über rote Augen.  Zeichnungen der Türkischen Taube findet man bei Frisch 1763 und Neumeister 1837.

 

Abb. 3: Türkische Taube bei Frisch 1763 und Neumeister 1837

Tauben mit stärkerer Bewarzung, tauchten erst in der ersten Monographie über Haustauben durch den Londoner Apotheker Moore (1735) in der Beschreibung seines Carriers auf. Die Bewarzung würde bei diesem manchmal auch durch zwei Auswüchse an jeder Seite des Unterschnabels begleitet. Zu seiner Zeit wurde schon auf Schönheitsattribute nach einem Standard gezüchtet. Sein Carrier war deutlich größer als die gewöhnliche Taube, der Schnabel lang, gerade und dick, der Hals lang und dünn. Abgebildet wird das Ideal 1765 in der Treatise. Eindrucksvoll auch die Abbildung bei Tegetmeier 1868. Kaum noch Ähnlichkeit mit der Beschreibung des ursprünglichen Carriers bei Willughby und mit den frühen Abbildungen der Türkischen Taube. Brent (1871) vermutet wohl zurecht, dass die Veränderungen in Hals- und Schnabellänge auf frühe Kreuzungen mit Französischen Bagdetten zurückzuführen waren.

 

Abb. 4: Carrier in der Treatise 1765 und bei Tegetmeier 1868

Die Zunahme der Bewarzung dürfte durch Zuchtauslese und Ausnutzung von Mutationen in die gewünschte Richtung erreicht worden sein. Insgesamt eine züchterisch beeindruckende Leistung: Für Moore und seine Freunde war der Englische Carrier der König der Tauben im Hinblick auf  Schönheit und Klugheit. Zum Nachweis der Klugheit fehlte noch eine eindrucksvolle Legende. Die strickte Moore, indem er die Geschichte der alten ‚Carrier‘ des Orients auf seinen inzwischen deutlich veränderten Ausstellungscarrier übertrug. Identitätsdiebstahl würde man es heute nennen. Dass sein Carrier sich schon weit von einer Botentaube entfernt hatte, das hatten neben Tegetmeier auch andere frühe Autoren wie Selby (1843) und Fulton (1878) festgestellt. Der Name Carriers sei bedauerlich, da man keine Schau besuchen könne, ohne dass jemand, der von dem Namen getäuscht wurde, von ihnen als den wahren Boten­tauben spreche (Tegetmeier 1868, S. 44). Damit wird nicht die Attraktivität in Frage gestellt, die auch Darwin (1868 Chapter VI) so empfunden hat, wenn er vom Carrier mit seinem wundervoll verlängerten Schnabel und großen Warzen und den Indianern mit den kurzen breiten Schnäbeln und Warzen um die Augen schrieb. Zurück gingen sie allerdings auf Vorgänger, die in allem weniger ausgeprägt waren (ebenda).

Als Ausstellungstaube eroberte der Carrier von England ausgehend die Welt. Auch die stark bewarzten Englischen ‚Barbs‘ wurden ein Aushängeschild englischer Züchtungskunst und waren bis in die 60er Jahre als Indianer des Englischen Typs in Deutschland auf den Ausstellungen zu finden.

Abb. 5: Indianer alten Typs, Siegertier der Nationalen Hamburg 1953 (Taubenwelt 2/1954).

Ein Exemplar eines Englischen Carriers aus früher Zeit ist im Naturhistorischen Museum in Braunschweig erhalten. Beschriftet ist der Balg als ‚Bagdette‘. Das, weil der Englische Carrier in Deutschland auch ‚Langschnäblige Bagdette‘ (im Unterschied zur krummschnäbligen Nürnberger) genannt wurde. Gestiftet wurde er 1887 von Hugo du Roi, damals Präsident des Klubs deutscher und österreichisch-ungarischer Geflügelzüchter.

 

Abb. 6: Foto in der Beschreibung der Italienischen Ausstellungsbrieftaube, propagiert als Alt-Italienische Brieftaube; Italian Exhibition Carrier (Viaggiatore Italiano da esposizione) http://www.agraria.org/colombi/viaggiatoreitaliano.htm und ein im Naturhistorischem Museum Braunschweig erhaltener Balg eines auf dem Kontinent vor 1900  verbreiteten Englischen Carriers

Mit dem Englischen Carrier wurde offenbar auch der von Moore gesponnene Mythos vom Englischen Carrier als antike Botentaube gleich mit in andere Länder und Köpfe übertragen. Das dürfte der Hintergrund für die Präsentation ähnlicher Tauben als altpolnische und altungarische Brieftauben sowie italienische Schönheitsbrieftauben sein. Eher peinlich, dass man auch im deutschen Standard immer noch nachlesen kann, der Englische Carrier sei eine uralte Botentaube Vorderasiens und Nordafrikas gewesen. Ein nachhaltiges Marketing von Moore, das werden auch heutige Marketingexperten zugestehen müssen!

Ob dem Englischen Carrier die angedichtete Vergangenheit als Brieftaube gut tut, ist eine offene Frage. Wahrscheinlich würde man die Besonderheiten des Englischen Carriers im Hinblick auf Hals- und Beinlänge, den abfallenden Stand und die Besonderheiten in Kopfform und Schnabel sogar besser wahrnehmen und würdigen, wenn nicht der unpassende Vergleich mit der für ganz andere Zwecke gehaltenen Brieftaube im Hintergrund stünde.

  

Abb. 7: Carrier mit Begrenzung der Schnabelwarzen auf den Oberschnabel im ersten Jahr und ein ausgereiftes Alttier (ganz rechts)

Warzentauben haben seit etwa dreihundert Jahren Anhänger gehabt und werden sie auch weiterhin haben, auch ohne die unzutreffende Behauptung einer Vergangenheit als Botentaube. So sollte man auch zugestehen, dass viele der heute national und regional als alte Brieftaubenrassen propagierten Tauben in der Tradition des Ausstellungscarriers und früher Formen des Englischen Indianers stehen, und nicht in der von Brieftauben.

Literatur:

Brent, B.P., The Pigeon Book. Containing the Description and Classification of all the known Varieties of the Domestic Pigeon, with numerous highly-finished Illustrations, third edition London o.J. (1871)

Darwin, Charles, The Variation of Animals and Plants under Domestication, Vol. I, London, John Murray 1868.

Fulton, R., The Illustrated Book of Pigeons. London, Paris, New York and Melbourne 1876.

Gesner, Conrad, Vogelbuch, Frankfurt am Main 1669, aus dem Lateinischen mit Verbes­serungen durch Geor­gium Horstium, Nachdruck durch die Schlütersche Verlagsanstalt und Druckerei Han­nover 1995.

Moore, John, Columbarium: or the Pigeon House, London 1735.

Neumeister, G., Das Ganze der Taubenzucht, Weimar 1837.

o.V., A Treatise on Domestic Pigeons, London MDCCLXV (1765), Reprint Chicheley, Bucking­hamshire 1972.

Selby, P.J., The Naturalist’s Library, edited by Sir W. Jardine, Bart., Vol. XIX. Ornithology. Pi­geons, Edinburgh 1843, (Vorwort von 1835).

Sell, Axel, Brieftauben und ihre Verwandten, Achim 2014.

Sell, Axel, Pigeon Genetics. Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim 2012.

Sell, Axel, Taubenrassen. Entstehung, Herkunft, Verwandtschaften. Faszina­tion Tauben durch die Jahrhunderte, Achim 2009.

Tegetmeier, W.B., Pigeons: their structure, varieties, habits and management, London 1868.

Willughby, Francis, Ornithologia, Libres Tres, Londini MDCLXXVI (1676); The Ornithology in Three Books. Translated into English, and enlarged with many Addi­tions throughout the whole work by John Ray, Fellow of the Royal Society, London 1678.